Mein jüngerer Bruder, mein Freund Cosi und ich kamen an diesem 2. Februar 1996 zusammen, um Maria Lichtmess zu feiern. Ich war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Maria Lichtmess oder Imbolc, was die Wiederkehr des Lichts bedeutet, ist, wie die anderen großen Feiertage des alten und neuen spirituellen Kalenders, ein heiliger Tag für mich. Als „Tempel“ wählten wir das Zimmer meines Bruders in der Wohnung meiner Eltern im siebten Stock eines Hochhauses, weil wir dort am meisten Platz hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einige spirituelle Erfahrungen gesammelt. Schon als Jugendlicher habe ich mich für paranormale Geschichten interessiert. Mein spiritueller Weg begann 1992 mit meiner Indienreise, auf der ich zwei tibetische Lamas getroffen hatte, die mich auf meinen Weg gesendet haben. In der Folge hatte ich mich mit „Zauberpflanzen“ befasst, wie Schamanenpflanzen auch genannt werden. Meine zweite Indienreise war ebenfalls sehr einschneidend, noch bedeutsamer jedoch meine Nah-Tod-Erfahrung: das wichtigste Erlebnis meines Lebens. Sie hat alles von innen heraus komplett verändert. Von jetzt aus betrachtet weiß ich, dass die Intelligenz des Lebens mich auf eine große Initiations-Reise geschickt hat, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Eine Initiation ist nie zu Ende, sie hört nie auf. Wir gehen von Etappe zu Etappe, mal ist es eine große, mal eine kleine, und erst alle zusammen ergeben das ganze Bild. Maria Lichtmess 1996 fügte diesem Bild einen wichtigen Impuls hinzu, denn bei dieser Zeremonie mit meinem Bruder und Cosi wurde mir meine eigene Rolle im großen Spiel offenbart.Bevor wir begannen, bereinigten wir alles, was zwischen uns stand. Ich hatte in der Vergangenheit oft genug erlebt, dass der heilige und energetische Raum authentischer Zeremonien das, was zwischen den Teilnehmern „nicht stimmt“, hervorholt. Deswegen bereinigten wir all diese Dinge im Vorfeld. Ein solches Vorgehen hat etwas von einer Beichte, doch es tut sehr gut und vor allem wirkt es deutlich. Im Anschluss bereitete ich den heiligen Raum auf physischer und energetischer Ebene, reinigte ihn und tätigte die Anrufungen. Dann konnte die Zeremonie beginnen. Anfänglich rasselten und sangen wir wie es gerade einfach da war. Die Trance verstärkte sich von Augenblick zu Augenblick, und plötzlich verselbstständigte sich mein Gesang, wurde geradezu ekstatisch. Mein ich wurde an die Seite gedrängt. Eine starke Energie durchfloss mich und strömte in den Raum, zu den anderen und darüber hinaus, weit hinaus. Auf einmal formte siin mir ein Kanal für heilende und heilige Lieder und feinstoffliche Energie – ein anhaltender Fluss aus Energie und Gesang. Lieder, die ich niemals zuvor gesungen habe, die jedoch die Energie formten und lenkten. Aber das hier galt nicht mir allein, das spürte ich deutlich. Ich, als Stefan, stand eher am Rande und beobachtete, was geschah, ohne die Möglichkeit, mich einzumischen, einzugreifen, die Lieder auszusuchen, eine andere Tonhöhe zu singen oder was auch immer. Ich konnte lediglich da sein und wahrnehmen, was geschah, während ich zuließ, was geschehen wollte. Und da hörte ich diese „Stimme" in meinem Kopf, ganz klar und unmissverständlich: „Du bist ein Schamane! Schneide dir die Haare!"Die Haare schneiden? Das war harter Tobak! Meine Haare waren lang, sehr lang. Ich liebte meine Haare, sie waren mir fast heilig. Es hatte acht Jahre gedauert, bis sie so lang waren, und ich hatte sie mir in einem harten Kampf gegen meinen Vater erkämpft. Meine Haare waren meine Antennen in die andere Welt und mein Symbol des Widerstandes gegen das Establishment. Ich würde den Spielregeln einer Gesellschaft nicht folgen, die unsere Mutter Erde zerstörten. Nein! Ich wollte, ich musste meine Haare behalten, sie waren ein Teil von mir. Also versuchte ich, diese Stimme zu überhören. Doch wenn dich der Ruf ereilt, kannst du nicht auf Durchzug schalten. Plötzlich veränderte sich die Energie im Raum. Es begann quasi energetisch zu haken, ein bisschen wie bei einem Sprung in der Schallplatte oder wenn eine CD hängen bleibt.Schlagartig erinnerte ich mich an eine Zeremonie mit der Native American Church und dem heiligen Sakrament Peyote vor einem Jahr. Bei dieser Zeremonie hatte ich mir eine Bussard-Feder in die Haare geflochten und eines der Geistwesen sagte, während die Zeremonie im vollen Gange war, ich solle sie abnehmen, denn es gebührte mir nicht, diese Feder in dieser heiligen Zeremonie zu tragen. In diesem Moment erkannte ich, dass diese Utensilien heilig sind, dass Federn und andere Dinge wie Abzeichen oder Orden sind und dass sie aus der geistigen Welt gegeben werden müssen. Man darf sie sich nicht einfach nehmen. Zumindest dann nicht, wenn sie als echte Kraftobjekte dienen sollen. Welch eine Schmach war es, die Feder vor den anderen Teilnehmern abzunehmen! Auch damals hatte ich versucht diese Stimme zu überhören. Auch damals stockte die Energie im Folgenden, und es ging energetisch mit der Zeremonie nicht weiter, bis ich der Stimme gefolgt war und die Bussard-Feder abgenommen und vor mir in Boden gesteckt hatte. Doch auch das war den Spirits nicht recht. Ich fühlte auch sofort, warum. Mein Ego hatte sich damit ein Denkmal gesetzt. Seht her, ICH habe die Feder abgenommen, ICH habe es getan. Mein Gewissen drängt mich, die Feder ganz still und leise zur Seite zu legen. Später schenkte ich sie dem Feuermann der Zeremonie, er war ein würdiger Empfänger, und ich hatte eine Lektion in Demut erhalten. Und genauso wie damals spürte ich auch heute, dass ich keine Wahl hatte. Eine tiefe Gewissheit durchströmte mich, auch wenn sie weh tat. Sehr weh. Ich würde mir nun also meine Haare abschneiden, meine herrlichen, wundervollen, prachtvollen Haare. „Was willst du tun?“, fragte mein Bruder geschockt. Er kannte mich seit Jahrzehnten und wusste, wie viel mir meine Haarpracht bedeutete.„Das ist doch Quatsch. Wieso? Überleg es dir noch mal!“, bat mich auch Cosi.Aber für mich gab es nichts zu überlegen. Mit jeder Faser meines Seins spürte ich, dass ich die Haare jetzt abschneiden musste. Ansonsten würde ich die Verbindung in diese andere Welt empfindlich stören. Ich musste einen Schnitt tun, um einen Schritt gehen zu dürfen.Zufällig, es gibt keine Zufälle, hatte Cosi einen Langhaarschneider dabei. Ich nahm all meinen Mut zusammen, drehte das Geplapper meines Verstandes, der mich für verrückt erklärte, leiser und setzte den Apparat an. Unter unangenehmem Surren segelten die ersten Strähnen zu Boden. Es tat nicht weh, auch wenn mein Bruder und Cosi mich aus großen Augen anstarrten. Und dann geschah etwas Wunderbares: Auf einmal hatte ich eine klare Vision des 17. Karmapas. Er lächelte mich an und verschwand. In mir breitete sich tiefer Friede aus. Alles ist gut. Ich wusste, dass ich gerade eine Prüfung aus der geistigen Welt bestanden hatte. Eine Prüfung, die mich für viele weitere Prüfungen qualifizierte. Meine Lehrzeit zum Schamanen erreichte eine neue Ebene. Intuitiv wusste ich, dass ich die Haare aufbewahren sollte, sie waren Kraftobjekte. Wir trommelten und tanzten mit neuer ekstatischer Energie.Plötzlich stand mein Vater in der Tür und brüllte: „Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Wir sind doch hier nicht bei den Wilden!“ Wohlgemerkt es war mitten in der Nacht, wir hatten kräftig geräuchert und wir wohnten in einem Hochhaus. Das trommeln hat man wahrscheinlich noch im Erdgeschoss gehört. Sein Blick verharrte auf mir. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass das, was er seit Jahren wollte, nun eingetroffen war. Die Haare sind ab, doch von Glatze war keine Rede gewesen. Das war zwar kurz, aber keine ordentliche Frisur. Mein Anblick verstörte ihn so sehr, dass er ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.Mich suchte bald ein Wechselbad der Gefühle heim. Zwischen Trauer um meine Haare und Zweifeln an meinem Verstand, der mich für verrückt erklärte und Stolz, dass ich meiner inneren Führung gefolgt bin und ein so großes Opfer (wie ich es empfand) gebracht habe.Ja, die Lehrzeit ist noch lange nicht vorbei.
Dieser Abend markiert einen sehr wichtigen Wendepunkt in meiner Entwicklung, die im Sommer 1992 begonnen hatte. Ein Vierteljahrhundert währte meine spirituelle Reise von Initiation zu Initiation, ehe ich im Oktober 2017 zum Meister Schamanen ernannt wurde. Als solcher weiß ich, dass die Lehrzeit niemals endet und ich bestenfalls ein Diener der Kräfte bin.
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